Als Mustafa Kemal Pascha am 16. Mai 1919 nach Samsun abreiste, um Anatolien von der fremden Besatzung zu befreien, wusste er, dass der grösste Teil des Volkes dem Sultan-Kalifen noch treu ergeben war. Darum sah er sich gezwungen, seine wahren Ge-fühle zu verbergen. Wiederholt versicherte auch er ihm seine Verbundenheit. Nur gegenüber seinen engsten Freunden erwähnte er, dass nach errungenem Siege die Regierungsform der Türkei die Republik sein werde. Dies ahnten auch einige weitsichtige Staatsmänner in Istanbul. So rief Grosswesir Ali Rıza Pascha in einem lichten Augenblick aus: “Sie werden die Republik errichten!’’ Mustafa Kemal aber zeigte ihnen, dass er nicht nur ein Revolutionär, sondern auch ein grosser Diplomat war, der sich darüber im klaren war, dass er sein Ziel nur schrittweise erreichen konnte.
Der erste Schritt auf dem Wege zur Republik war die Eröffnung der Grossen Nationalversammlung, der er die Aufgabe stellte, “das Hohe Kalifat und Sultanat, sowie die wohlbehüteten Kaiserlichen Länder aus den Händen der Fremden zu befreien.” In seinem Rechenschaftsbericht über den bisherigen Verlauf der nationalen Bewegung vom 24. April 1920 betonte er, dass “unser Padischah als Kalif auch das Haupt der islamischen Welt sei. Daher könne man im Augenblick bloss “eine Regierung ohne Oberhaupt” bilden. Uber diese hinaus gebe es jedoch keine Gewalt. In einer Note an die fremden Regierungen vom 30. April teilte er mit, dass ein Exekutivkomitee der Nationalversammlung die Regierungsgewalt übernommen habe. Ein Abgeordneter berichtete, dass in Anatolien eine böswillige Propaganda behaupte, Mustafa Kemal werde Präsident der Republik sein.
Der zweite Schritt, zu dem ihn die Grossmächte zwangen, indem sie die Regierung von Istanbul mit einer Unterdelegation Ankaras zur Londoner Konferenz über eine Revision des Friedensdiktats von Sèvres einluden, war die Verkündung der Provisorischen Verfassung vom 20. Januar 1921, deren Artikel 3 feststellte. “Der Türkische Staat wird von der “Regierung der Türkischen Grossen National-versammlung (T.G.N.V.) geleitet.” Damit erreichte Mustafa Kemal, dass ihr Aussenminister Bekir Sami den als Mindestforderungen für einen Friedensvertrag geltenden “Nationalpakt” vortragen konnte, nachdem ihm Grosswesir Tevfik Pascha das Wort abgetreten hatte.
Auch den dritten Schritt erzwangen die Grossmächte, indem sic trotz dem von der Ankara -Regierung allein geschlossenen Waffen-stillstand von Mudanya (11. Oktober 1922) auch die Sultansregierung zur Friedenskonferenz nach Lausanne einluden. Nun fasste die Nationalversammlung den denkwürdigen Beschluss, dass “die Regierungsform von Istanbul (d.h. die Monarchie) seit dem 16. März 1920 (d.h. dem Tage der offiziellen Besetzung dieser Stadt) für immer der Geschichte angehöre.” Aus Gründen der inneren und auswärtigen Politik liess Mustafa Kemal das Kalifat einstweilen fortbestehen, allerdings ohne irgendwelche Herrschaftsrechte, obwohl vorauszusehen war, dass einige Geistliche, die im islamischen Recht bewandert waren, beantragen würden, ihm solche Rechte beizulegen, wie ihm etwa nach dem Vorbild des englischen Königs eine rein repräsentative Stellung einzuräumen. Die in dieser Beziehung noch bestehenden Zweifel wurden auch durch seine Erklärungen auf der Pressekonferenz von İzmit (16.-17. Januar 1923) nicht zerstreut, wobei er u.a. sagte: “Die Frage des Kalifats und der Republik steht jetzt nicht zur Debatte. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Wir wollen darüber schweigen. Jedenfalls gibt es heute einen unabhängigen und neuen Türkischen Staat. Er hat zum Kalifen keine (rechtlichen) Beziehungen.”
Erst nach Unterzeichnung des Friedens von Lausanne formu-lierte Mustafa Kemal sein Programm, zunächst in einem vertraulichen Kreise und dann in einem Interview, das er dem Korrespondenten der “Neuen Freien Presse” gewährte: “Ankara ist die Hauptstadt der Türkischen Republik.” Dies verwirklichte er in zwei Etappen:
1 — 13. Oktober 1923: “Die Stadt Ankara ist der Verwaltung-ssitz des Türkischen Staates.” (Beschluss der T.G.N.V.),
2 — 29. Oktober 1923: “Die Regierungsform des Türkischen Staates ist die Republik.” (Verfassungsänderndes Gesetz).
Er selber hat zusammen mit Ismet Pascha diesen Gesetzentwurf ausgearbeitet und nach kurzer Aussprache im Plenum der T.G.N.V. zur Annahme gebracht, wobei er betonte, dass eine von ihr gewünschte starke Regierung nur auf diese Weise zustandekomme. Unmittelbar darauf wurde er einstimmig zum eisten Präsidenten der Republik gewählt. In seiner Dankrede sagte er u.a. : “Dem Türkischen Staat wurde nun ein international bekannter Titel verliehen. Auf den guten Willen der Nation gestützt, werden wir alle zusammen in die Zukunft gehen.”
Wenn es sich hiernach anscheinend bloss um eine Namengebung der schon seit 1920 bestehenden Regierungsform handelt, so zeigte es sich doch bald, dass nun auch die Kalifatsfrage gelöst werden musste. Denn neben einem Präsidenten der Republik hatte ein Kalif vollends keinen Platz mehr. Mustafa Kemal erkannte, dass der zu erwartende Protest der islamischen Welt nur von kurzer Dauer sein werde. Den von indischen Muslimen ihm nahcgelegten Gedanken, selber das Kalifat zu übernehmen, lehnte er als lächerlich ab. Denn wie sollte er alle islamischen Länder bewegen, seine Vorschläge anzunehmen? Ganz richtig heisst es in der Begründung zum Gesetz, mit dem das Kalifat abgeschafft wurde: “Da das Kalifat im Sinn und Begriff von Regierung und Republik enthalten ist, wurde seine Institution aufgehoben.” (3. März 1924).
Die Ausrufung der Republik kann man mit Recht als einen grossen Wendepunkt in der Geschichte der neuen Türkei bezeichnen. Denn während es bis zu diesem Tage der kraftvollen Persönlichkeit Mustafa Kemals gelungen war, ihre Unabhängigkeit gegenüber einer Welt von Feinden zu erkämpfen, so konnte er nun darangehen, seine tiefeinschneidenden Reformen (Devrim — Revolution) durch Fortschritte auf allen Gebieten durchzuführen und auf diese Weise der Türkischen Republik einen geachteten Platz in der Gemeinschaft der Völker zu sichern. Mit Recht schrieb der Leiter der Zeitung “Tevhidi Efkâr”: “Unser Oberbefehlshaber (Titel seit der entscheidenden Schlacht am Sakarya 1921) war bis heute ein Glaubenskämpfer (Ehrenname eines heimkehrenden Kriegers), von jetzt ab ist er entschlossen, ein Erneuerer zu sein.” Als einen solchen verehrt ihn auch heute das ganze türkische Volk.