Die hellenistische Zeit hat in der Architekturgeschichte eine wichtige und grosse Bedeutung. In dieser Zeit haben die Architekten die Experimente, die Durchführung und die Wissenschaft der vorigen Jahrhunderten in ihrer Bauten als Zweck, Plan und Detail verschmelzen lassen und sie als eine neue Synthese ihrer und der folgenden Epoche zur Verfügung gestellt. Wie die Tempelbauten der archaischen und klassischen Zeit erreichte auch die Architektur der hellenistischen Zeit ihren Ruhm durch die Tempelbauten ionischen Stiles besonders in Kleinasien und den benachbarten Inseln. Die Zahl der Anlagen ist nicht gross, aber sie behalten ihre wissenschaftliche Bedeutung nicht nur wegen dieser Seltenheit, sondern auch wegen ihrer immer noch ungelösten Probleme und nicht zuletzt wegen ihrer mangelhaften Erforschung.
Einen dieser Bauten finden wir in Kleinasien in der Troas. Der Apollon - Smintheus - Tempel in Chryse (Gülpmar) wurde von H. Weber im Jahre 1966 der archäologischen Forschung zum zweiten Male in Erinnerung gebracht[1], nachdem er in den 100 Jahren nach der ersten Grabung im Jahre 1866 in Vergessenheit geraten war. Der Apollon - Tempel, der uns durch drei antiken Überlieferungen bekannt ist[2], wurde von Pullan im Auftrag von der Society of Dilettant! ausgegraben[3].
Der Apollon - Smintheus - Tempel befindet sich in Gülpmar. Nach 16 km Asphaltstrasse von Ayvacik nach Assos (Behramkalc), erreicht man Gülpmar auf einer 26 km langen Erdstrasse, die von Assos nach Norden führt. Das Dorf ist auch von Qanakkale durch eine Strasse über Ezine zu erreichen. Die Tempelruinc liegt an der Nordseite des Dorfes, unten am Rand der Talcbene, die “Bahçeleriçi” genannt wird.
Die Bedeutung des Apollon - Smintheus - Tempels in der Troas wurde niemals unterschätzt und die ihm gebührende Stellung in der hellenistischen Architektur immer richtig betont[4], obwohl der Tempel uns äusser einem sich hauptsächlich auf die Datierung beziehenden Artikel von Weber[5] nur durch die Publikationen der Society of Dilettant! bekannt ist[6], deren Richtigkeit oft ins Zweifel gezogen wurde[7].
Mit der Genehmigung der Antiken - Verwaltung des KultusMinisteriums wird am Tempel vom Sommer 1980 an unter der Leitung von Dr. Cojkun Özgünel[8] eine neue Grabung angesetzt werden und der in Vergessenheit geratene Tempel wird nach seiner ersten Erforschung im Jahre 1866 zum ersten Male wieder wissenschaftlich erfasst und der archäologischen Forschung vorgestellt werden. Da aber die Grabungen und die endgültigen Publikationen eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen werden, halten wir cs für notwendig, eine sehr wichtige Eigenschaft des Tempels schon jetzt wenn auch mit Vorbehalt der Forschung bekannt zu machen.
Es sind uns in Kleinasien zwei Tempel mit Figuraltrommcln (columnae caelatae) bekannt: das Didymaion[9 ]und das Artcmision von Ephesos[10]. Diesen Beispielen kann jetzt ein drittes hinzugefügt werden, nämlich der Apollon - Smintheus - Tempel von Chryse (Gülpinar).
In Gülpinar liegen in der Nähe des Tempels einige Architekturteile, Friesplatten[11] zusammen mit einer Säulentrommel mit 14 Figuren darauf (Abb. 1). Sie dürfte nach der Angabe der Dorfbc-
wohner mit der ‘Basis’ identisch sein, der von Weber beschrieben wurde, denn er sagt: “noch in einem Acker steckend liegt (sc. eine Basis) etwa 500 m entfernt südlich des Wegs der von Gülpinar zur Westküste führt”[12]. Er vermerkt, dass das Stück “verschleppt, wiederverwendet und dafür mit einer künstlichen, mir unverständlichen Eintiefung in seiner Oberseite versehen”[13] wurde. Diese Vertiefung, die unsere Trommel auch aufweist, deutet darauf hin, dass sie als Weinpresse verwendet worden ist.
In einer alten Weinpresse bei Öküzbajt (Ochsenkopf) zwischen Gülpinar und Tuzla liegt auf der einen Seite der Strasse eine zweite Trommel, die leider in der letzten Zeit teilweise zerschlagen ist, während sich auf der anderen Strassenseite ein ionisches Kapitell des Apollon - Sminthcus - Tempels befindet. Das Kapitell und die Trommel weisen die gleiche Eintiefung für die Verwendung als Weinpresse auf. Diese Trommel, die von Spratt und J. M. Cook auch gesehen wurde[14], ist mit Phialen und Bukranien also mit Stierköpfen verziert (Abb. 2), nach denen die Stelle seit unbekannter Zeit Öküz- baji (Ochsenkopfstcllc) genannt wird.
Newton schreibt bei seiner Einleitung folgendes[15]: “By a singulär piece of good fortune, all thc drums bclonging to onc column except thc uppermost were found; and as thc lower diameter of thc missing drum is given by the upper diameter of the drum on which it rested, and its upper diameter is given by the circle of capital...”. Offensichtlich hat Pullan vergeblich nach obersten Trommeln mit Kanneluren gesucht, denn jetzt sind Beweise vorhanden, um mit Sicherheit zu behaupten, dass die Säulen an Stelle der obersten kannelierten Trommeln Relieftrommcln hatten. Es kann hier noch nicht gewagt werden, zu entscheiden, welche Säulen sie getragen haben oder ob sie auf allen Säulen angebracht waren. Es darf aber angenommen werden, dass es wenigstens zwei Arten von Darstellungen an columnac caelatac gab, von denen eine unbekannte Anzahl mit figürlichen Darstellungen, die übrigen mit Phialen und Bukranicn verziert waren. Es scheint, dass gerade die Säule, die Pullan gemessen hat, eine Relieftrommel hatte.
Die Anordnung der Relieftrommcl ans obere Ende der Säule wird durch die Kanneluransätze unter den Relieftrommeln zweifelsfrei bewiesen (Abb. 3). Die Ansätze der 24 Kanneluren haben eine Höhe von 8 cm. Der 50 cm hohe Rcliefgrund wird von oben und von unten von 7 cm hohen Toroi begrenzt. Die Gesamthöhe der Figuraltrommel beträgt 72 cm. Der obere Durchmesser der Figuraltrommel (104.5 cm) stimmt mit dem Durchmesser der Kapitellunterseite (109 cm) überein. Auf der anderen Seite passt der untere Durchmesser der Figuraltrommel zum oberen Durchmesser der zweitobersten Säulentrommel (100 cm), auf die sie gehört und von denen einige vorhanden sind.
Bei unserem letzten Besuch in Gülpinar haben wir bei der “Karaağaçkuyusu” genannten Stelle eine Basis des Tempels zusammen mit einer dritten Figuraltrommel gefunden. Ihre Figuren waren völlich abgeschlagen. Da die Trommel auf dem Kopf steht, sind die Kanneluransätze einwandfrei zu sehen und zu messen (Abb. 4).
Die Relicftrommeln des Smintheion waren nach diesen drei Beweisstücken als obersten Säulentrommeln unter den Kapitellen angebracht. Doch darf man diese Tatsache nicht verallgemeinern. Selbst bei diesem Tempel muss man sich fragen, wie man die verzierten Teile der Trommel von unten sehen konnte, immerhin waren die Säulen niedriger (11.79 m)[16] und die Umgänge wegen der pseu- dodipteral Form breiter, obwohl die Säulen in pyknostyler Ordnung standen. Daraus ist jedoch nicht unbedingt zu schliessen, dass auch die columnac caelatac des jüngeren Artcmision von Ephesos auch unter den Kapitellen angebracht waren[17]. Denn die Höhe der Säulen (17.65)[ 18], die dipterale Säulenordnung und das zwischen Pyknostylos und Systylos liegende Intercolumnium[19 ]hätten die Sichtbarkeit der Darstellungen auf den Figuraltrommeln noch stärker vermindert[20].
Aul die Darstellungen der Figuraltrommeln und ihre Datierung kann hier nicht eingegangen werden, da sie mit anderen Fragen des Tempels bei der endgültigen Publikation ausführlich diskutiert werden sollen.